Über das regierungsamtliche Cannabis-Märchen

Etwa Mitte August 2010:

Einige deutsche Zeitungen – darunter die Süddeutsche – verkünden die vermeintlich überraschende Nachricht der Koalition, Cannabis werde als Medikament zugelassen.

https://www.sueddeutsche.de/politik/cannabis-medikamente-drogen-auf-rezept-1.988986

Indes suggerierten diese Presse-Artikel den interessierten Lesern die humane Botschaft, dies sei ein bedeutender Fortschritt in der Behandlung von Schwerstkranken.

Ein Meilenstein in der deutschen Gesundheitspolitik schien passiert, endlich sollen Patienten den Wirkstoff zugebilligt bekommen, der ihnen nachweislich hilft, ihr immenses Leid besser zu ertragen.

Den gleichen Wirkstoff nämlich, dem beinahe ein Jahrhundert lang die Absprache jeglicher medizinischer Wirksamkeit sowie die diffamierende Reduzierung zur bloßen Rauschdroge zum Verhängnis wurde.

Also endlich eine positive Nachricht zur ansonsten so sehr schwächelnden Gesundheitspolitik…?

Mitnichten, denn bereits im August 2007 war u.a. im STERN zu lesen, dass es nun möglich sei, Cannabis aus der Apotheke zu beziehen. Einer an Multiple Sklerose erkrankten Frau aus Baden-Württemberg sei eine entsprechende Genehmigung vom Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM) erteilt worden. Die Patientin erhalte einen aus Cannabis erzeugten Extrakt.

https://www.stern.de/gesundheit/gesundheitsnews/multiple-sklerose-patientin-cannabis-aus-der-apotheke-595792.html

Inzwischen aber dürfte allen intensiv mit dem Sachthema befassten Personen klar sein, dass diese vermeintliche "Ringeltäubchen-Nachricht" aus FDP/CDU/CSU-Regierungskreisen nichts weiter ist als eine bleierne Ente.

Ein Etikettenschwindel.

Manche selbst von schwerer Krankheit Betroffene, die sich weiterhin illegal und von Strafverfolgung bedroht mit pflanzlichen Cannabis-Varietäten behandeln müssen, sprechen sogar von "schön geredeten Lügen".

Westerwelle (FDP) interessiert das Wahlvieh nicht.Von "Stimmenfang auf Kosten von Todkranken" und von "Hintertür-Öffnung mit Hofknicks für den Einstieg der pharmazeutischen-Industrie in ein lukratives Geschäft" zu Lasten des Steuerzahlers, und auf Kosten von Menschenleben …

Ironie der Geschichte: Erst zwei Jahre zuvor – angesichts einer drohenden Kostenexplosion – hatte der Sprecher der GKV anlässlich der Experten-Anhörung im Gesundheitsausschuss des Bundestags im Oktober 2008 noch gewarnt, als er ein rabenschwarzes Szenario drohender Milliarden-Kosten für die Kassen entwarf, "weil künftig jede Person mit einfachen Kopfschmerzen zu Cannabis greifen werde…" Woraufhin gegen die Empfehlung der 14 übrigen anwesenden Experten der Antrag auf eine Zulassung von Cannabis als Arzneimittel durch den Gesundheitsausschuss abgelehnt wurde.

"Nunmehr also möge der Bundestag beschließen – so die Empfehlung der Koalition – dass einem Teil der in Deutschland an Multipler Sklerose erkrankten Menschen – nämlich denjenigen, denen das Mittel nach Erprobung tatsächlich hilft – SATIVEX zuteil werde."

Gemeint ist ein Fertigarzneimittel aus dem Hause GW-Pharmaceuticals, das aufwändig und per patentiertem Geheimverfahren aus Hanf gewonnen wird und das im direkten Vergleich mit dem pflanzlichen Naturprodukt Cannabis Sativa nicht gerade als billig zu bezeichnen ist.

Die einzige Indikation des Präparats dürfte den profitierenden Patientenkreis drastisch einengen – sie lautet nämlich "Spastik" bei Multipler Sklerose. Ähnlich gelagert ist die Situation mit dem synthetisch hergestellten Dronabinol.

 

Womit aber soll den unzähligen an Krebs, HIV, Tourette, ALS, Hepatitis, Morbus Crohn, Morbus Bechterew, Alzheimer, chronischen Schmerz-Syndromen u.ä. erkrankten Menschen geholfen werden, die weltweit lebendiges Zeugnis davon ablegen, dass sie von natürlichem Cannabis aus Eigen- oder (staatlichem) Fremdanbau gesundheitlich gut – jedenfalls besser profitieren als von herkömmlichen, synthetischen Varianten?

Kriminalisierung von Schwerstkranken

 

Mit Nichts!

 

Das bedeutet eine fortwährende willkürliche Kriminalisierung und weiterhin drohende Strafverfolgung inklusive Führerscheinentzug.

 

Nichts außer der Einsicht auf Betroffenen-Seite, dass man gewisse Presseberichte gar nicht erst zu lesen braucht, um schon vorher enttäuscht festzustellen, dass auch diese Regierung insgesamt nicht wirklich besser ist als ihr in Cannabis-Gesundheitsbelangen bereits heftig lädierter Untätigkeits-Ruf.

 

Die Arbeitsgemeinschaft Cannabis als Medizin hat vor dem Hintergrund der jüngsten Entwicklung eine Stellungnahme abgegeben, auf die das Selbsthilfenetzwerk an dieser Stelle aufmerksam machen möchte. Aufgegriffen wird darin auch die aktuelle Ablehnung eines Antrags auf Eigenanbau durch einen an MS schwer erkrankten Patienten aus Mannheim.

IACM-Logo

International Association for Cannabinoid Medicines (IACM)

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Stellungnahme der ACM zum Referentenentwurf einer 25. Verordnung zur Änderung betäubungsmittel-rechtlicher Vorschriften (25. BtMÄndV)

 

 

August 2010

Inhalt

 

 

"Justice delayed is justice denied."

William Gladstone, ehemaliger britischer Premierminister

 

 

1. Vorbemerkung

Der zehnköpfige IACM-Vorstand, der Mitglieder aus acht Nationen umfasst, nimmt im Allgemeinen nicht zu nationalen politischen und rechtlichen Fragen Stellung. Die IACM befürwor­tet ganz allgemein alle Maßnahmen, die eine ärztlich befürwortete medizinische Verwendung von Can­nabisprodukten durch Patienten ermöglichen bzw. erleichtern.

Diese Stellungnahme gibt daher die Position der Arbeitsgemeinschaft Cannabis als Medizin (ACM) aus dem deutschen Sprachraum wieder. Sie beschränkt sich auf die eine Therapie mit Cannabis betreffenden Passagen des Referentenentwurfs.

 

2. Zusammenfassung

Die Arbeitsgemeinschaft Cannabis als Medizin (ACM) unterstützt die geplanten Umstufun­gen von Cannabis in den Anlagen I bis III des BtMG. Dies ermöglicht die arzneimittelrechtli­che Zulassung des Cannabisextrakts Sativex und zukünftig möglicherweise weiterer Medi­kamente auf Cannabisbasis in Deutschland. Eine Zulassung von Sativex für die Behandlung der Spastik bei multipler Sklerose ist bereits in Großbritannien und Spanien erfolgt. Nach Angaben des britischen Herstellers GW Pharmaceuticals sind weitere Zulassungsanträge in Italien, Frankreich, Deutschland und anderen europäischen Ländern nach dem vereinfachten EU-Zulassungsverfahren gestellt worden. Der Hersteller rechnet mit einer Zulassung in Deutschland im Jahr 2011.

Die ACM weist darauf hin, dass sich seit der Anhörung im Gesundheitsausschuss des Deut­schen Bundestags im Herbst 2008 zur medizinischen Verwendung von Cannabisprodukten in Deutschland die rechtliche Lage der Patienten nicht verbessert hat, und dass die geplante Verordnung daran nichts Wesentliches verändert, da sie nur einen kleinen Teil der Pati­enten (MS-Kranke mit Spastik) betrifft. Mit einer Erweiterung der Indikation und der Zulas­sung weiterer Medikamente ist zwar in den nächsten Jahren zu rechnen. Sie werden eben­falls immer nur einen Teil der Betroffenen aus ihrer aktuellen prekären Lage befreien, näm­lich Patienten mit der jeweils zugelassenen Indikation. Die bereits heute antizipierbaren zu­künfti­gen Zulassungen geben einen Eindruck von den bisherigen Versäumnissen, dem damit ver­bundenen vermeidbaren Leid und von dem, was heute notwendig wäre.

Diese Maßnahme und weitere Maßnahmen der kommenden Jahre dieser Art, die auf den Anstrengungen pharmazeutischer Unternehmer beruhen, sind zu begrüßen. Sie sind jedoch unzureichend, um allen Patienten, die auf eine Therapie mit Cannabisprodukten angewiesen sind, einen entsprechenden Zugang zu ermöglichen. Dieses Problem ist seit langem be­kannt.

Soweit es in der Begründung der geplanten Verordnung heißt "Bezüglich des Handels und des Besitzes von Cannabis zu Rauschzwecken bleibt die Rechtslage unverändert" so wäre es ehrlich und seriös gewesen, wenn ergänzt worden wäre, dass auch die Rechtslage für die meisten Patienten, die Cannabis für medizinische Zwecke verwenden, unverändert bleibt. Sie werden weiterhin wie Kriminelle behandelt, wie Personen, die Cannabis illegal und meistens regelmäßig verwenden. Sie besitzen die Droge wiederholt und häufig in nicht ge­ringen Mengen, sodass nicht selten der Straftatbestand des Verbrechens besteht.

Die ACM mahnt daher wirkliche Verbesserungen an. Die Politik kann nicht allein auf die will­kommene und vorbildliche Arbeit pharmazeutischer Unternehmen bauen und sich mit dieser Arbeit schmücken, sondern muss ihren eigenen Beitrag leisten, um die Situation der Betrof­fenen zu verbessern. Es gibt dazu verschiedene Lösungsansätze (siehe unten). Bisher hat die Politik nur das umgesetzt, zu dem sie in langjährigen juristischen Verfahren verpflichtet wurde. Ein aktueller Bescheid des BfArM vom 10. August 2010, in dem der Antrag eines schwer kranken Patienten auf einen Eigenanbau zur Selbstversorgung abgelehnt wurde (siehe unten), zeigt erneut, dass die Umsetzung selbst höchstrichterlicher Urteile – in diesem Fall ein Urteil des Bundesverwaltungsgerichts aus dem Jahr 2005 – leider nur unzureichend erfolgt.

 

3. Ausgangslage: Welche Therapieoptionen es heute gibt

Eine ärztlich überwachte Therapie mit Cannabis bzw. einzelnen Cannabinoiden kann aktuell grundsätzlich auf zwei Wegen erfolgen:

a) mittels Betäubungsmittelrezept können der Cannabiswirkstoff Dronabinol (THC) oder der synthetische THC-Abkömmling Nabilon rezeptiert werden;

b) nach einer Ausnahmegenehmigung durch das BfArM (Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte) kann eine medizinische Verwendung von Cannabis erfolgen. Die Verwen­dung ist auf den Kauf von Cannabis in Apotheken beschränkt.

In beiden Fällen müssen die Patienten im Allgemeinen die Behandlungskosten für Canna­bisprodukte selbst aufbringen. Etwa 1500 Patienten werden nach Kenntnis der ACM in Deutschland mit Dronabinol behandelt, eine geringe und uns unbekannte Zahl mit Nabilon, und etwa 40 bis 50 Bundesbürger besitzen eine Ausnahmegenehmigung zur Verwendung von Cannabis aus der Apotheke.

Daneben gibt es 5 bis 10 Patienten, die Cannabis selbst anbauen, nachdem sie wegen des Vorliegens einer Notstandsituation von Strafgerichten vom Vorwurf des illegalen Besitzes von Cannabis freigesprochen wurden und zukünftig keine Strafverfolgung in diesem Bereich befürchten müssen.

3.1 Verschreibung von Dronabinol bzw. Nabilon

Derzeit sind in Deutschland keine Fertigarzneimittel auf der Grundlage von Cannabis für den Verkehr zugelassen. Fertigarzneimittel mit den Wirkstoffen Nabilon und Dronabinol sind je­doch in den USA und Großbritannien sowie anderen Ländern im Verkehr und können daher auf Grundlage des § 73 Abs. 3 Arzneimittelgesetz (AMG) auch in Deutschland rezeptiert werden.

Darüber hinaus können Apotheker Dronabinol-haltige Rezepturarzneimittel (ölige oder alko­holische Tropflösungen, Kapseln) nach ärztlicher Verordnung herstellen. Der Ausgangswirk­stoff hierfür wird von den beiden deutschen Unternehmen Bionorica Ethics und THC Pharm hergestellt. Der Deutsche Arzneimittelkodex des Bundes Deutscher Apothekerverbände (ABDA) hat Rezepturvorschriften zur Anfertigung solcher Rezepturarzneimittel entwickelt.

In der Praxis stellen das Hauptproblem die Kosten dar, da die gesetzlichen Krankenkassen im Allgemeinen nicht zur Kostenübernahme eines in Deutschland arzneimittelrechtlich nicht zugelassenen Arzneimittels verpflichtet sind. Die monatlichen Behandlungskosten mit einem Dronabinol-haltigen Rezepturarzneimittel – die preiswerteste Lösung bei der Verschreibung von Cannabinoiden – belaufen sich bei einer mittleren täglichen Dosierung von 10 bis 15 mg auf etwa 250 bis 400 EUR.

Nach einem Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 6. Dezember 2005 sind gesetzliche Krankenversicherungen nur dann zur Übernahme der Kosten einer nicht für diese Indikation zugelassenen Behandlung verpflichtet, wenn eine "lebensbedrohliche oder regelmäßig tödli­che Erkrankung" besteht und "eine nicht ganz entfernt liegende Aussicht auf Heilung oder auf eine spürbare positive Einwirkung auf den Krankheitsverlaufs besteht". Am 27. März 2007 hat das Bundessozialgericht diese Rechtsprechung erstmals auf eine geplante Be­handlung mit Dronabinol bei einem Schmerzpatienten angewendet und die Position der Krankenkasse bestätigt, die die Kostenübernahme für Dronabinol mit dem Argument verwei­gert hatte, es liege keine lebensbedrohliche Erkrankung vor.

 

3.2 Ausnahmegenehmigung zur Verwendung von Cannabis

Wenn ein Arzt eine Behandlungsindikation mit Cannabinoiden sieht, die Krankenkasse aber die Kostenübernahme für eine solche Behandlung ablehnt, dann besteht für den Patienten die Möglichkeit, eine Ausnahmegenehmigung zur medizinischen Verwendung von Cannabis nach § 3 Abs. 2 BtMG (Betäubungsmittelgesetz) bei der Bundesopiumstelle des BfArM zu beantragen. Eine solche Erlaubnis ist nach dem Gesetz "nur für wissenschaftliche oder an­dere im öffentlichen Interesse liegende Zwecke" möglich. Das Bundesverwaltungsgericht hat in einem Urteil vom 19. Mai 2005 in diesem Zusammenhang festgestellt, dass auch die me­dizinische Versorgung der Bevölkerung ein solches „öffentliches Interesse" darstellt.

Das Urteil des Bundesverwaltungsgerichts aus dem Jahr 2005 ermöglicht es dem BfArM auf der einen Seite Patienten, die einer Behandlung mit Cannabisprodukten bedürfen, eine Aus­nahmegenehmigung zur medizinischen Verwendung von Cannabis zu erteilen. Auf der ande­ren Seite muss Patienten, bei denen alle notwendigen Voraussetzungen erfüllt sind, eine entsprechende Genehmigung erteilt werden. Die erste Erlaubnis wurde im August 2007 er­teilt, nachdem das BfArM zunächst versucht hatte, die Umsetzung des Urteils insbesondere durch überhöhte Sicherheitsanforderungen und mit dem Verweis auf die unzu­reichende Standardisierung von Cannabis zu verhindern. Eine ähnliche Strategie wird heute vom BfArM – offenbar auf Grund von Weisungen durch das BMG – zur Verhinderung von Geneh­migungen zum Eigenanbau verfolgt (siehe unten).

Im Rahmen der Antragstellung muss der Patient darlegen, dass andere Therapien nicht aus­reichend wirksam sind und eine Behandlung mit anderen Cannabismedikamenten nicht möglich ist, weil entweder die Kosten einer Behandlung mit Dronabinol nicht von der Kran­kenkasse erstattet werden oder weil Dronabinol im Gegensatz zu Cannabis nicht oder unzu­reichend wirksam ist. Dem Antrag muss eine entsprechende ärztliche Stellungnahme beige­fügt werden.

Die Kosten für Cannabis aus der Apotheke belaufen sich für die Patienten auf etwa 15 bis 18 EUR pro Gramm. Daraus ergeben sich bei einem Tagesbedarf von 0,5 bis 2 Gramm monat­liche Kosten von etwa 250 bis 1000 EUR.

 

4. Änderungen: Was die geplante Verordnung bringt

In der Begründung für die Verordnung heißt es zum Sinn der Verordnung zutreffend:

"Mit den Änderungen der Position "Cannabis" in den Anlagen I bis III des BtMG wird eine differenzierte Umstufung vorgenommen. Da in Europa (Großbritannien) eine Zulassung für ein Fertigarzneimittel mit Cannabis-Extrakt zur symptomatischen Therapie der Spastik bei Multipler Sklerose erteilt wurde, ist es zeitnah notwendig, für einen auch in Deutschland be­vorstehenden Antrag auf Zulassung dieses Arzneimittels das generelle Verkehrsverbot für Cannabis zu medizinischen Zwecken aufzuheben. Es sollen lediglich solche cannabishalti­gen Arzneimittel verkehrsfähig werden, die unter den strengen Voraussetzungen des Arz­neimittelrechts als Fertigarzneimittel zugelassen sind. Diese Fertigarzneimittel dürfen dann ausschließlich auf Betäubungsmittelrezepten verschrieben werden. Ferner wird durch die gestufte Unterstellung der Position Cannabis in den Anlagen I bis III des BtMG die Herstel­lung von entsprechenden Zubereitungen zu medizinischen Zwecken ermöglicht."

 

5. Erfordernisse: Was geändert werden sollte

Grundsätzlich ist an eine befriedigende Lösung des Problems die Anforderung zu stellen, dass Bundesbürger, die Cannabisprodukte zu medizinischen Zwecken benötigen, Zugang zu solchen Produkten erhalten. Dies ist heute nur für einen kleinen Teil der Patienten der Fall. Dieser Anteil wird durch die aktuelle Verordnung vergrößert. Das Problem wird damit jedoch nicht gelöst, da die grundsätzliche Anforderung nicht erfüllt wird.

 

Es gibt mehrere Lösungsmöglichkeiten:

5.1 Kostenübernahme einer Behandlung

  • Kostenübernahme einer Behandlung mit Cannabisprodukten durch die Krankenkas­sen oder eine andere Stelle für Patienten, für die ein Arzt eine Behandlungsindikation sieht.

Heute müssen die Patienten sowohl medizinische Zubereitungen auf Cannabinoidbasis (Dronabinol, Nabilon, Cannabisextrakt) als auch Cannabis aus der Apotheke überwiegend selbst bezahlen. Da die Produkte für viele chronisch Kranke nicht finanzierbar sind, bleiben viele Betroffene von einer adäquaten Behandlung ausgeschlossen. Ein Vorbild für die Finan­zierung von Cannabis aus Apotheken könnte das Modell aus Washington D.C. darstellen. Die Stadt will nach dem zur Zeit im Aufbau befindlichen Konzept die Kosten von Cannabis für Personen, die sich die Produkte finanziell nicht leisten können, in Abhängigkeit von der finanziellen Lage zum Teil oder vollständig übernehmen.

 

5.2 Erlaubnis des Eigenanbaus

  • Erlaubnis des Eigenanbaus von Cannabis oder die Möglichkeit, jemanden mit dem An­bau für den Eigenbedarf, zu beauftragen.

Diese Lösung ist beispielsweise in Kanada Teil eines Gesamtkonzepts zur aus­reichenden Versorgung der Bevölkerung mit Cannabisprodukten.

Das Bundesverwaltungsgericht hatte in seinem Urteil vom 19. Mai 2005 ausdrücklich darauf hingewiesen, dass im Falle von Cannabis am ehesten eine Erlaubnis zum Eigenanbau in Frage komme. Das BfArM hat jedoch Anträge auf einen Eigenanbau bisher jahrelang nicht bearbeitet. In den vergangenen Wochen wurde eine Weisung des Bundesgesundheitsmi­nisteriums bekannt, nach der das BfArM entsprechende Anträge nicht weiter bearbeiten darf.

Im Anhang findet sich ein aktueller Fallbericht. Am 10. August 2010 erging danach nach ei­ner wegen Untätigkeit eingereichten Klage ein Wider­spruchsbescheid des BfArM gegen ei­nen Antrag auf Eigenanbau.

 

5.3 "Geringe Schuld" bei medizinischer Verwendung

  • Änderung des Betäubungsmittelgesetzes in der Weise, dass nicht nur der Besitz ei­ner gerin­gen Menge, sondern auch eine ärztlich befürwortete medizinische Verwen­dung von Canna­bis grundsätzlich zu einer Einstellung eines Strafverfahrens wegen des Vorliegens einer "ge­ringen Schuld" führt.

Die ACM ist der Auffassung, dass in diesen Fällen keine Schuld vor­liegt, erkennt jedoch, dass sich der Gesetzgeber mit der Thematik schwer tut, sodass das Vorliegen einer gerin­gen Schuld vielleicht einen Kompromiss darstellen könnte.

Um den Leidens- und Strafverfolgungsdruck für Patienten mindern zu können, Rechtssicher­heit für Ärzte und Patienten zu schaffen, könnte eine prozessuale Lösung im Betäubungs­mittelgesetz umgesetzt werden, die Regelung eines § 31b BtMG, der bei Vorlage einer ärzt­lichen Empfehlung im Regelfall die Einstellung des Verfahrens vorsieht. Anders als im Be­reich der Opportunitätsregelung des § 31 a BtMG könnte hinsichtlich der prozessualen Lö­sung der Frage der arzneilichen Verwendung von Cannabis die Klärung von Beschlagnahme und Sicherstellung im Wege des Opportunitätsgedanken anders gelöst werden. Rechtssi­cherheit könnte durch eine Sollvorschrift geschaffen werden, die im Regelfall ein Absehen von der Strafverfolgung vorsieht.

Formulierungsbeispiel für § 31b BtMG (Arzneiliche Verwendung von Cannabis):

"(1) Hat das Verfahren ein Vergehen nach § 29 Abs. 1, 2 oder 4 zum Gegenstand, so soll die Staatsanwaltschaft von der Verfolgung absehen, wenn der Betroffene Inhaber einer ärztli­chen Empfehlung ist und der Betroffene die Betäubungsmittel lediglich zur eigenen arzneili­chen Verwendung anbaut, herstellt, einführt, ausführt, durchführt, erwirbt, sich in sonstiger Weise verschafft oder besitzt.

(2) Die Staatsanwaltschaft soll von der Beschlagnahme und Einziehung der Betäubungsmit­tel absehen, wenn der Betroffene Inhaber einer ärztlichen Empfehlung und nicht mit einer Menge an Betäubungsmitteln betroffen ist, die die in der ärztlichen Empfehlung angegebene Menge übersteigt."

 

6. Schlussfolgerungen

Vermögende Patienten sind in Deutschland hinsichtlich der Möglichkeiten der medizini­schen Nutzung von Cannabisprodukten deutlich besser gestellt als weniger vermö­gende Pati­enten, die sich die verschreibungsfähigen Cannabinoide finanziell nicht leisten können. Die ACM lehnt diese Art der Zweiklassenmedizin ab, die zu einer schlechteren me­dizinischen Versor­gung, größerem Leid und früherem und qualvollerem Tod von Angehöri­gen der schwächeren Klasse führen und die schwächere Klasse zudem, wenn sie sich not­gedrungen illegal mit Cannabispro­dukten versorgt, durch das Betäubungsmittelgesetz krimi­nalisiert.

Eine Zweiklassenmedizin wird nur vermieden, wenn die medizinische Verwendung von Can­na­bis eine ärztliche Entscheidung ist, so wie dies heute für die ärztliche Verschreibung von Drona­binol auf einem Privatrezept gilt.

Zu den Lösungsansätzen 1 und 2 im vorausgehenden Abschnitt gibt es eine Anzahl von Verbesserungsmöglichkeiten. Ergänzend sollte überlegt werden, wie Patienten entkriminali­siert werden könnten, beispielsweise entsprechend Lösungsansatz 3. Die Behauptung im Referentenentwurf für eine 25. Verordnung zur Änderung betäubungsmittelrechtlicher Vor­schriften, es gäbe zur vorgeschlagenen Lösung keine Alternativen, ist nicht korrekt.

Innerhalb des Lösungsansatzes 1 gibt es beispielsweise folgende einzelne Verbesserungs­möglichkeiten:

1. Erleichterte Kostenübernahme einer Behandlung mit Cannabisprodukten für Rezepturarz­neimittel sowie für Fertigarzneimittel außerhalb der zugelassenen Indikation (Off-Label bzw. No-Label-Use),

2. Bessere personelle Ausstattung des BfArM für die Bearbeitung von Anträgen auf eine Ausnahmeerlaubnis zur medizinischen Verwendung von Cannabis nach § 3 Abs. 2 BtMG zur Verkürzung der Bearbeitungsdauer, die heute häufig mehr als 3 Monate umfasst,

3. Vereinfachung des Antragsverfahrens bei Anträgen auf eine Ausnahmeerlaubnis zur me­dizinischen Verwendung von Cannabis nach § 3 Abs. 2 BtMG,

4. Bereitstellung von Mitteln zur Finanzierung von Cannabis aus der Apotheke für Patienten, die sich diesen Cannabis finanziell nicht leisten können, jedoch eine Ausnahmeerlaubnis besitzen.

Innerhalb des Lösungsansatzes 2 gibt es beispielsweise folgende einzelne Verbesserungs­möglichkeiten:

1. Reduzierung der Anforderungen an Sicherungsmaßnahmen,

2. Einrichtung einer Cannabis-Agentur bzw. bewusster Verzicht auf die Einrichtung einer Cannabis-Agentur bei einer Erlaubnis zum Eigenanbau für eigene medizinische Zwecke,

3. Überdenken und Modifizierung der Position zu weiteren Versagungsgründen in dem im Anhang be­schriebenen Fall,

so dass dann Erlaubnisse für den Eigenanbau möglich werden.

Es gibt allerdings offensichtlich Probleme, Verbesserungen innerhalb der ersten zwei Lö­sungsansätze vorzunehmen. Daher sollte neben der zu erwartenden Marktzulassung von Medikamenten auf Cannabisba­sis, die für einen zunehmenden Teil der betroffenen Patienten eine Lösung des Problems darstellt, überlegt werden, die übrigen Patienten, die von dieser Lösung auf unabsehbare Zeit nicht profitieren werden, entsprechend des Lösungsansatzes 3 zu entkriminalisieren.

 

Anhang: Fallbericht zum Eigenanbau

Am 10. August 2010 erging nach einer wegen Untätigkeit eingereichten Klage ein Wider­spruchsbescheid des BfArM gegen einen Antrag auf Eigenanbau. Es handelt sich um ein derzeit vor dem Verwaltungsgericht Köln laufendes Verfahren eines Patienten gegen die Bundesrepublik Deutschland (VG Köln, 7 K 3889/09). In dem Verfahren hat das BfArM dem Patienten, der auf Grund eines Freispruchs vor den Strafgerichten Cannabis anbaut, nun mit dem Widerspruchsbescheid untersagt, Cannabis selbst anzubauen.

Der Eigenanbau des Antragstellers ist erforderlich, weil alle Alternativen (Dronabinol bzw. Cannabis aus der Apo­theke) angesichts des erheblichen Bedarfs des Patienten (mehrere Gramm Cannabis pro Tag) finanziell nicht zu bewältigen sind. Die Kosten würden monatlich bei deutlich über 1000 EUR liegen. Der Betroffene baut seit vielen Jahren Cannabis für den Eigenbedarf an und wurde in mehreren Instanzen von den Strafgerichten vom Vorwurf des illegalen Besitzes von Cannabis freigesprochen.

Dieser Fall soll hier mit einigen ersten Kommentaren ausführlich vorgestellt werden, weil er zusammen mit den geplanten Um­stufungen von Cannabis in den Anlagen I bis III BtMG ein gutes Bild zur aktuellen Haltung des BMG (Bundesgesundheitsministerium) zur Frage der Hilfe von Patienten, die Cannabis­produkte medizinisch nutzen wollen, ergibt.

In einer Pressemitteilung vom 18. August 2010 weist der Anwalt des Betroffenen daraufhin, dass das BfArM in einem Aktenvermerk angesichts dieser Situation festgestellt hat: "im Falle des Patienten ist die Erteilung einer Erlaubnis zum Cannabis-Eigenanbau therapeutisch be­gründet und auf Grund seiner prekären finanziellen Situation ohne Alternative." (Bl. 145 der Verwaltungsakte, Vermerk vom 30.7.2009). Ein weiterer Vermerk besagt: "Die vom An­tragsteller vorgeschlagenen Sicherungsmaßnahmen werden als ausreichend eingestuft." Der letzte Vermerk der Akte datiert vom 27. August 2009 und besagt: "In dieser Sache muss dem BMG berichtet werden, bevor ein positiver Bescheid gefertigt werden kann."

Im Widerspruchsbescheid vom 10. August 2010 wird nun die Behauptung erhoben, es be­stehe bei der Ablehnung der Genehmigung zum Eigenanbau unter Verweis auf andere Mög­lichkeiten zur Behandlung mit Cannabisprodukten kein Behandlungsdefizit: "Mit Erteilung einer Erlaubnis für den Erwerb von niederländischem Medizinalhanf (…) steht dem Wider­spruchsführer die Cannabis-Therapie grundsätzlich zur Verfügung. Ein Behandlungsdefizit oder gar eine Behandlungslücke besteht insoweit nicht, weil vorliegend lediglich eine kon­krete Art des Betäubungsmittelverkehrs (der Eigenanbau) verneint, nicht aber die Therapie generell verhindert wird." (Seite 8 des Widerspruchsbescheids.)

An dieser Stelle sei an folgende Passage aus dem Urteil des Bundesverwaltungsgerichts vom 19. Mai 2005 erinnert. Anträge auf eine Ausnahmegenehmigung dürften nicht abgelehnt werden, weil Patienten sich vom Arzt ein Medikament auf Cannabisbasis (Dronabinol) ver­schreiben lassen können, da dieses Medikament "weder ohne weiteres verfügbar noch für den normalen Bürger erschwinglich ist", und daher keine Alternative darstelle, die "das öf­fentliche Interesse am Einsatz von Cannabis zur Krankheitsbekämpfung entfallen lässt."

Wie soll man die Behauptung des BfArM, dem Patienten stehe eine Behandlung mit Canna­bis "grundsätzlich zur Verfügung", angesichts der in diesem Fall anfallenden monatlichen Kosten von mehr als 1000 EUR für Cannabis aus der Apotheke und seiner Einkommenssitu­ation bezeichnen? Als notorische Uneinsichtigkeit vor dem Hintergrund der klaren Worte des Bundesverwaltungsgerichts? Als zynisches Augenschließen vor der Wirklichkeit des An­tragstellers?

 

Die Ablehnung des Eigenanbaus wird insbesondere mit folgenden Argumenten begründet:

1. unzureichende Sicherungsmaßnahmen gegen Entwendung,

2. erhöhte Gefahr des Missbrauchs,

3. keine finanziellen Vorteile des Eigenanbaus gegenüber dem Erwerb,

4. unkontrollierter Wirkstoffgehalt beim Eigenanbau,

5. Hinderung der Genehmigung durch internationale Übereinkommen.

 

1. Zu den Sicherungsmaßnahmen

Wie insbesondere in den Jahren 2006 und 2007 bei den Genehmigungen zur Verwendung von Cannabis aus Apotheken demonstriert wurde, hat das BfArM einen großen Spielraum hinsichtlich der Anforderungen an Sicherungsmaßnahmen. Die Sicherungsmaßnahmen wa­ren erst sehr hoch und für Privatpersonen nicht erfüllbar und wurden dann der Realität ange­passt, sodass dann Ausnahmeerlaubnisse für Cannabis aus der Apotheke erteilt werden konnten (bzw. mussten). Da oder solange es politisch nicht gewollt ist, dass Patienten Can­nabis für ihren Eigenbedarf anbauen dürfen, werden die Anforderungen an Sicherungsmaß­nahmen nach dem gleichen Prinzip heute für den Eigenanbau so hoch gesetzt, dass sie von einer Privatperson nicht erfüllt werden können und eine Erlaubnis aus diesem Grund angeb­lich nicht möglich ist. Die zur Zeit an Patienten gestellten Anforderungen sind höher als die Anforderungen, die von dem Unternehmen Bedrocan in den Niederlanden erfüllt werden müssen. Es wird so getan, als müsse Cannabis in einem Hochsicherheitstrakt angebaut werden, während die Morphium-Tabletten auf dem Nachttisch kein Problem darstellen.

 

2. Zur Gefahr des Missbrauchs

In dem Widerspruchsbescheid heißt es lapidar: "Beim Eigenanbau in einer Privatwohnung kann ein Missbrauch deutlich schwerer ausgeschlossen werden." Diese Begründung offen­bart eine erschreckende Naivität oder bewusste Irreführung des BfArM hinsichtlich der Miss­brauchsmöglichkeiten verschriebener Arzneimittel, insbesondere Benzodiazepine und Opi­ate. Es wird so getan, als könnten Ärzte den Verbleib und die Verwendung verordneter Me­dikamente über­blicken bzw. sogar kontrollieren. Diese Begründung stellt nicht mehr als eine fragwürdige und unbegründete Behauptung dar, deren Wahrheitsgehalt offenbar intuitiv ein­leuchten soll und dabei diskriminierend mit Vorurteilen gegenüber Patienten, die einen Ei­genanbau bean­tragen, spielt. Patienten mit einer Ausnahmegenehmigung zum Eigenanbau für den eigenen medizinischen Bedarf wird suggestiv eine Nähe zu Drogenkonsumenten zu Rauschzwecken und eine hohe Tendenz zum Missbrauch (bzw. nichtmedizinischen Kon­sum) unterstellt.

Für diese Patientengruppe soll durch Aktivierung solcher Vorurteile ein allgemein anerkann­tes Prinzip in einem demokratischen Sozialstaat offenbar nicht gelten: Bei sozialen Maß­nahmen, die missbraucht werden können, werden wegen des möglichen Missbrauchs nicht die sozialen Maßnahmen in Frage gestellt. Darf man Personen, die eine Behandlung mit Cannabis benötigen, einen entsprechenden Zugang verweigern, weil ein Missbrauch nicht ausgeschlossen ist?

 

3. Zu den finanziellen Vorteilen des Eigenanbaus gegenüber dem Erwerb

Werden an die Sicherungsmaßnahmen so hohe Anforderungen gestellt, dass Investitionen in Höhe von mehreren 10.000 EUR erforderlich sind, so ergeben sich tatsächlich finanzielle Vorteile erst nach einem Amortisationszeitraum von mehreren Jahren. Werden allerdings Sicherungsmaßnahmen in einem Volumen von mehreren 100 EUR verlangt, so rentiert sich der Eigenanbau bereits innerhalb von ein bis zwei Monaten.

 

4. Zum Wirkstoffgehalt und zur Dosierung beim Eigenanbau

Wie bei den Ablehnungen von Anträgen auf die Verwendung von Cannabis in den Jahren 2006 und 2007 wird das Thema "unkontrollierter Wirkstoffgehalt" und seine damit angebli­chen Gefahren ins Spiel gebracht. Dem BfArM ist bekannt, dass der Antragsteller seit vielen Jahren Cannabis selbst anbaut und damit gute Erfahrungen gemacht hat.

Er kann die benö­tigte Menge durch die von ihm gewählte Einnahmemethode (Kombination aus oraler Ein­nahme und Inhalation) optimal dosieren. Das BfArM ist gehalten, jeden Antrag individuell zu prüfen. Davon ist allerdings nicht nur in diesem Abschnitt wenig zu entdecken. So geht das BfArM mit keinem Wort auf das Angebot des Antragstellers ein, den THC-Gehalt seiner Pflanzen in einem Rechtsmedizinischen Institut einer Universität bestimmen zu lassen.

Was die allgemeinen Ausführungen zu diesem Thema angeht, so sind die angeblichen Probleme mit dem unkontrollierten Wirkstoffgehalt entweder aus Unkenntnis oder bewusst völlig übertrieben dargestellt.

In diesem Zusammenhang sei darauf hingewiesen, dass die folgende Aussage unzutreffend ist: "In der Literatur beschriebene schwerwiegende Nebenwir­kungen, wie z. B. epileptische Anfälle, die infolge veränderter Qualität des Pflanzenmaterials und des Wirkstoffgehalts je­derzeit auftreten können, können vom Arzt weder vorausgesehen werden noch kann thera­peutisch zielgerichtet auf unerwünschte Wirkungen reagiert werden."

Die Annahme, dem Antragsteller würden epileptische Anfälle drohen, ist abwegig. Angesichts der Angewiesen­heit des Antragstellers auf die Verwendung von Cannabis zur Behandlung seiner schweren Erkrankung ist die Behauptung, man wolle ihn vor möglichen – an den Haaren herbeigezo­genen – Risiken schützen, indem man ihm die notwendige Eigentherapie verweigert, eine völlige Verkennung der Prioritäten, eine völlig verfehlte Abwägung des möglichen Nutzens und der möglichen Risiken. Es wird zudem vom Arzt nicht erwartet und kann auch nicht er­wartet werden, dass er auf unerwünschte Wirkungen durch den verwendeten Cannabis an­gemessen reagiert, denn der Arzt ist nicht der Behandler, sondern nur der Begleiter einer Selbstbehandlung. Die Verantwortung übernimmt der Antragsteller, der in diesem Fall eine langjährige Erfahrung mit der Selbstmedikation mit Cannabis besitzt.

Übrigens: Cannabinoide sind keine Alkaloide und das "Alkaloidspektrum" ist für die Wirkung von Cannabis irrelevant. Es reicht aus, sich die Strukturformeln der Cannabinoide anzu­schauen, und zu wis­sen, dass Alkaloide Stickstoffverbindungen sind. Leider ist die unzurei­chende Kenntnis bzw. Darstellung pharmako­logischer Aspekte in dem Widerspruchsbe­scheid nicht immer so einfach als solche zu er­kennen.

 

5. Zu den internationalen Abkommen

Das BfArM weist darauf hin, dass "eine Gestattung des Anbaus der Cannabispflanze zur Gewinnung von Cannabis oder Cannabisharz zur Folge [hat], dass es der Anwendung des Kontrollsystems sowie der Einrichtung einer staatlichen Stelle (sog. Cannabis-Agentur) zum Aufkauf der Ernte nach Artikel 23 Absatz 2d) ÜK 1961 bedarf".

Die ACM ist der Auffassung, dass die Bundesregierung in diesem Fall zügig damit beginnen sollte, eine solche staatliche Stelle einzurichten, damit sie das Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 19. Mai 2005 endlich umsetzen kann.

An dieser Stelle sei jedoch darauf hingewiesen, dass es in dieser Frage offenbar unter­schiedliche Rechtsauffassungen gibt – dem BfArM liegt ein juristisches Gutachten von Prof. Lorenz Böllinger vor, das zu einem anderen Ergebnis kommt -, und dass der INCB (Interna­tional Narcotics Control Board) nicht das Monopol auf die juristische Auslegung der internati­onalen Drogengesetze besitzt.

Offenbar wird es in einigen europäischen Ländern nicht für erforderlich erachtet, bei der Er­laubnis zum Eigenanbau, eine Cannabis-Agentur einzurichten, ohne dass nach Kenntnis der ACM eine Rüge dieser Länder durch den INCB erfolgt ist, wie das BfArM befürchtet. ("Eine gegebenenfalls internationale Rüge Deutschlands wegen Verletzung des ÜK 1961, etwa im Jahresbericht des INCB, ist vor diesem Hintergrund nicht vertretbar." Seite 7 des Wider­spruchsbescheids.)

So ist der Eigenanbau für persönliche Zwecke in Spanien erlaubt, was durch höchstrichterli­che Urteile bestätigt wurde. In Belgien, den Niederlanden und Tschechien ist der Eigenan­bau unter bestimmten Voraussetzungen ebenfalls erlaubt. In den Niederlanden gibt es zwar eine Cannabisagentur. Diese ist jedoch nicht für den Ankauf einer Ernte aus dem Eigenan­bau von Patienten zuständig. Auch Kanada, das den Eigenanbau durch Patienten erlaubt, diesen jedoch nicht durch die Cannabis-Agentur kontrollieren lässt, wurde nach Kenntnis der ACM bisher nicht durch den INCB gerügt.

Das diesbezügliche Schreiben des INCB vom 30. Juli 2010 an das BfArM, in dem die Auf­fassung des BfArM bestätigt wird, ist insofern in mehrfacher Hinsicht "bemerkenswert".

Die Bundesregierung muss nun entscheiden, welcher Rechtsauffassung sie folgt, und ent­sprechend aktiv werden.

Im Widerspruchsbescheid wird darauf hingewiesen, dass die Errichtung einer Cannabis-Agentur "vor dem Hintergrund des bestehenden Verkehrsverbots für Cannabis – auch nicht geboten" ist und "im Übrigen gesetzgeberischen Handelns" bedürfe (Seite 6 des Wider­spruchsbescheids). Anders ausgedrückt: Cannabis ist auch für medizinische Zwecke verbo­ten, weil Cannabis verboten ist, und so soll es auch bleiben. An dieser Stelle sei darauf hin­gewiesen, dass es dem Gesetzgeber gestattet ist, Gesetze zu verändern – umso mehr, wenn höchstrichterlich Handlungsbedarf festgestellt wurde.

 

Ihnen, lieber Leser, möchten wir aber zuerst einmal herzlich Danken, dafür dass Sie den sehr langen Beitrag bis zum Ende gelesen haben.


Nun ist das erst einmal viel Theorie. Die konkreten Auswirkungen und das Leid, das bei den chronisch Schwerstkranken durch diesen ablehnenden Bescheid des BfArM verursacht wird, werden wir in folgenden weiteren Artikeln genau erklären.

 

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