Patienten OHNE Zeit

 

August 2008. Meine körperlichen Ausfälle häufen sich. Neben den obligatorischen Schmerzen und starken Empfindungsstörungen im rechten Bein („Schlappfuß-Verhalten“), welche bei Fußmärschen über ca. 500 m Länge aufgrund eines nur vorübergehend erfolgreich operierten Bandscheibenschadens auftreten, breiten sich in meinem linken Arm seit Monaten dauerhafte „Parästhesien“ (Kribbeln, Strom- und Taubheitsgefühle) aus. Auf der Arbeit, in meiner Freizeit und beim Schlafen schränkt mich das stark ein. Vermutlich eine Folge der Lendenwirbel-Geschichte, sagt mein Arzt und zuckt mit den Achseln. Was könnte er mir schon dagegen verschreiben? Mir, der ich noch nicht einmal Paracetamol einnehmen sollte und dem Opioide aufgrund seiner Vorgeschichte versagt bleiben? En passant absolviere ich seit 28 Wochen eine relativ nebenwirkungsreiche Interferon-Therapie, die den Virus meiner Hepatitis C eliminieren soll. Mit Brustschmerzen, Atemwegs-Infektionen, Übelkeit, Durchfall, erheblichen Schlafstörungen und permanenter Schwächung meines ohnehin schon stark lädierten Kräftehaushalts. Alles, was ich gegen die dauerhaften Beeinträchtigen tun kann: Ich nehme rein pflanzliches Cannabis von eher niedrigem THC-Gehalt unter 10% und statt 0,2 nun 0,4 ml Methadon. Um durchzuhalten, die Zähne aufeinander beißen – und wie seit Jahren schon meinen Job machen zu können

Eher zufällig erfahre ich über den inneren Zirkel der organisierten Medizinalcannabis-Patienten der ACM, dass das Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte seit Kurzem nochmals die sowieso schon unzumutbaren Kriterien für eine Antragstellung auf Cannabis als Medizin verschärft hat. Die Verkürzung einer früheren Formulierung auf der Website des BfArM kündet nun sinngemäß davon, dass kranke Antragsteller nachweislich keine Linderung ihrer Beschwerden durch Dronabinol® erfahren dürfen, um dann erst auf (natürliches) Cannabis antragsberechtigt zu sein. Konkret bedeutet dies, dass Patienten zuvor Dronabinol® erfolglos ausprobiert haben müssen und dieser Vorgang ärztlich dokumentiert werden muss. Die hohen Kosten für das Medikament werden jedoch weiterhin von den meisten gesetzlichen Kassen nicht erstattet. Ergo wird Dronabinol® aus Angst vor Regressansprüchen auch nicht von Ärzten auf Kassenrezept verschrieben. Was also könnte dokumentiert werden, was nicht einmal rezeptiert wird? Diese Sinnlosigkeit hat zur Folge, dass Patienten, deren Anträge auf Vergabe, Selbstanbau oder Import von natürlichem Cannabis Sativa lauten, (weil sie als Kranke damit gute Ergebnisse in der Symptomlinderung erfahren haben) durch das BfArM quasi dazu genötigt werden:

  • Dronabinol® wider besseres Wissen einzunehmen. Versuchsweise. Ohne Garantie auf einen ähnlich gesundheitlichen Erfolg wie bei der Verwendung von Cannabis,
  • Dronabinol® über einen angemessen langen Zeitraum aus eigener Tasche zu bezahlen und dieses kostenintensive Procedere im Range einer „Mensch-Medikament-Versuchsanordnung“ schriftlich vom Hausarzt schriftlich festhalten zu lassen, und
  • als Voraussetzung zur Gewährung einer Antragsberechtigung auf  Cannabis beim BfArM eine Klage beim Sozialgericht gegen die Dronabinol® nicht zahlende KK einzureichen.

Klar, dass so etwas viel Zeit kostet. Patienten-Zeit. Verständlich, dass so etwas viel Geld kostet. Patienten-Geld.Nachvollziehbar, dass so etwas viele Leben kostet. Patientenleben.

Auf der Website des BfArM heißt es überdies wie selbstverständlich, dass man sich beim Bundesinstitut nach Prüfung der Sachlage vorbehält „unzuverlässige Antragsteller“ (z. B. wegen Vorstrafen) von der Antragstellung zurückzuweisen. Dies widerspricht nicht nur dem Gleichbehandlungsgrundsatz und dem Resozialisierungs-Ansinnen, sondern auch dem verbürgten Recht auf körperliche Unversehrtheit. Das BfArM legt mit dieser Missachtung elementarer Menschen- und Patientenrechte eine zutiefst zynische Haltung an den Tag, aufgrund derer chronisch und tödlich erkrankte Vorbestrafte von der Cannabisvergabe nach freiem Gutdünken ausgenommen werden. Auf diese perfide Art scheint sich vor wenigen Monaten auch der Sterbefall des Piet Stieg aus Berlin abgespielt zu haben: Piet Stieg wurde trotz seines Freispruchs vor Gericht wegen einer Notwehrhandlung aus medizinischen Gründen (Cannabis-Selbstanbau zu therapeutischen Zwecken) die erforderliche Erlaubnis zur Verwendung von Cannabis seitens des BfArM bis zum bitteren Schluss verweigert. Er starb letztlich an Leberversagen. Ohne die beantragte Ausnahme-Erlaubnis auf Cannabis-(Zeitgewinn) zu bekommen.

Die faktische Unmöglichkeit der Erfüllung der Zulassungsvoraussetzungen scheint demnach nicht ganz schuldlos an der Tatsache zu sein, dass das Recht auf freie Therapiewahl derart pervertiert ad absurdum geführt wird. Müßig darüber nachzudenken, ob der Patient Piet aus der Sicht des BfArM „nicht krank genug“ oder aber „zu vorbestraft“ gewesen ist, um ihm die erfragte Genehmigung zu verweigern. Was bleibt, ist das typisch Amtsdeutsche: Die Unverhältnismäßigkeit der Mittel.

August 2008. Ich bin vorbestraft und werde deshalb von der Cannabisvergabe ausgeschlossen. Dass ich seit 1981 erfolgreich substituiert werde und meine Fähigkeit zum verantwortlichen Umgang mit weitaus problematischeren Substanzen über 25 Jahre nachgewiesen habe, spielt für die individuelle Beurteilung der Sachlage offenbar keine übergeordnete Rolle. Auch nicht, dass meine Sozialtherapeutin mich als im Alltag vorbildlich unauffällig, zuverlässig integriert, arbeitsam und mit einer Fülle an gut funktionierenden Sozialkontakten schildert. Als nach allen gängigen Kriterien resozialisiert. Meine Anträge beim BfArM auf Genehmigung von Selbstanbau – bzw. Import von Cannabis  sind dennoch allesamt abgelehnt worden.  Ein Allerwelts-Schicksal von Tausenden in der rechtlichen Total-Zwickmühle zwischen Lebenswille, Kostenprogression und beständig zunehmender Krankheits-Verschlimmerung. Der einzig legale Überlebensausweg aus diesem Dilemma in Form einer Ausnahme-Genehmigung nach § 3 BtMG ist vernagelt und vom BfArM mit absichtlichen Unmöglichkeiten gespickt. Der gesellschaftliche Wille nach Veränderung der Situation ist zweifelsohne vorhanden, grundlegende Fortschritte sind in der drängenden Cannabismedizin-Frage aber nur in vagen Ansätzen zu erkennen. Es werden Anträge gestellt, Forderungen erhoben, Beweise gefordert und Studien angeregt. Derweil Zeit läuft und läuft und läuft…

Falls illegales Verhalten tatsächlich die einzige Alternative für cannabisbedürftige Kranke darstellt, um so der steten Verschlechterung schwerer Krankheitsbilder zu begegnen, werden diese Patienten ohne Zeit sich eher zur Illegalität bekennen, als über den Oktober 2008 hinaus zum Sinn des weiterhin bestehenden Cannabis als Medizin-Verbots.

A. J. 

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